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Es gibt eine Menge Ursachen dafür, dass Menschen zu Idolen werden. Manchmal genügt ein Moment: eine Mondlandung oder ein Tor in der Verlängerung eines WM-Finales. Und manchmal genügt ein dämlicher Song wie "Last Christmas", und manchmal braucht es ein halbes Leben im Gefängnis oder ein überlanges Leben als Altkanzler.
Viele Idole füllen ihre Rolle dann mehr oder weniger gekonnt aus, manche so ironisch stolz wie Helmut Schmidt und manche so milde gelassen wie Nelson Mandela. Andere können das nicht, weil sie nur punktuelle Hochbegabungen und leider größere Schwächen auf anderen Gebieten haben, und dann sterben sie so früh wie Amy Winehouse, sie trinken sich in den Abgrund wie der ehemalige britische Fußballer Paul Gascoigne, oder sie machen sich lächerlich und werden ganz irre im Größenwahn wie dessen argentinischer Kollege Diego Maradona. Letzteres kommt oft vor, ungefähr so oft wie die schleichende und sachliche Entzauberung von Idolen durch die alltägliche Wirklichkeit, weil Idole verherrlicht und verkitscht werden und dem eigenen Heiligenbild in der Wirklichkeit selten entsprechen können. Der Schauspieler Bill Cosby, der mutmaßliche Serienvergewaltiger, ist so ein Gestürzter, Franz Beckenbauer, der Kaiser, der sich in den Sumpfgebieten der Fifa so wohlfühlte, ebenso.

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Muhammad Ali: Großmaul, Kämpfer, Champion
Foto: Central Press/ Getty Images
Denn Idole sind halt gar nicht immer bessere Menschen als wir; oft mussten sie skrupellos sein, um Idol werden zu können, und sie mussten dopen, lügen, bestechen, mussten egomanisch und narzisstisch sein. Ohnehin, welcher Mensch ist schon in allen Bereichen des Lebens edel und grandios?
Muhammad Ali war kein durch und durch guter Mensch. Er verhöhnte seine Gegner und spielte mit rassistischen Klischees. Er betrog seine Ehefrauen und liebte den Sarkasmus der Arroganten, und seine Kinder sah er jahrelang eher sporadisch. Launisch war er auch. Aber wen (außer den Ehefrauen, Kindern, Gegnern) juckt's?

Er machte weitere Fehler, schlimme sogar. Den klugen Rücktritt verpasste er, weil er süchtig nach den Rufen seines Publikums war. "They never come back", diese Weisheit des Boxens kannte er eigentlich bestens, aber er hatte sie ja schon einmal widerlegt, weil er nach seiner Sperre zurückgekommen war, anders als zuvor und nicht mehr so flink, aber geschickt abwartend und darum stärker als zuvor. Wieso also nicht immer wieder? Ali war süchtig danach, dass sein Publikum "Ali, Ali" brüllte, wenn er im Bademantel und in den glänzenden Shorts des Sponsors Everlast in die Arenen zog. "Für diese Momente würde ich sterben", sagte er, und darum kam er wieder und wieder zurück und ließ sich am Ende verprügeln. Der 30-jährige Larry Holmes führte ihn vor, der noch jüngere Trevor Berbick jagte ihn durch den Ring, Ali kassierte Hunderte Kopftreffer zu viel, schrie vor Schmerzen, und die, die dabei waren, sagen heute noch, diese Schreie würden sie niemals vergessen.
Das Idol Ali war da längst erschaffen, die Legende war geboren, und sie wuchs und wuchs, und nichts konnte sie mehr zerstören.
Vielleicht liegt es daran, dass Muhammad Ali nicht durch Glück oder Zufall zum Idol geworden war, schon gar nicht durch PR, sondern er fiel in der Welt des professionellen Sports auf, weil er Romantiker und Dichter war, vielleicht auch der erste Rapper. Seine Sätze sind oft zitiert worden, aber man sollte sie als Gedichte lesen, unübersetzbar:
"Keep asking me, no matter how long,
on the war in Vietnam,
I sing this song:
I ain't got no quarrel with them Vietcong."
Mit diesen Worten verweigerte er den Kriegsdienst. Die Lizenz wurde ihm entzogen, die besten Jahre wurden ihm geraubt, und wer in einer solchen Lage derart souverän mit Worten umgeht, wird zum Helden und bleibt es.
Noch schöner, über den Weltmeister Sonny Liston:
"Now Liston disappears from view,
The crowd is getting frantic.
But our radar stations have picked him up,
he's somewhere over the Atlantic."
SPIEGEL ONLINE
1964 nahm Ali diesem Liston den Schwergewichtstitel weg, und wenige Monate später erhielt der Bürgerrechtler Martin Luther King den Friedensnobelpreis. King sagte: "So wie Muhammad Ali es sagt, ist es: Wir alle, schwarz und braun und arm, sind Opfer desselben Systems der Unterdrückung."
Und Ali dichtete:
"You think the world was shocked when Nixon resigned?
Wait till I whip George Foreman's behind."
Nicht immer, so heißt es, sei Muhammad Ali allein der Verfasser seiner Verse gewesen, aber hat eigentlich William Shakespeare alle Shakespeare-Dramen allein geschrieben? Und Ali war spontan, ein sensationeller Interviewpartner und Redner, denn er fürchtete keine Peinlichkeit und hatte stattdessen reichlich Humor.
"They never come back", diese Weisheit des Boxens kannte er eigentlich bestens.

Es ist im Nachhinein nicht mehr genau zu sagen, wann die Wahrnehmung kippte. Heute, viele Jahre später, wird die Geschichte, welche die Vereinigten Staaten und der Rest der Welt mit Ali haben, gern verklärt, doch es war keine lineare Geschichte. Der junge Ali, 1942 geboren, Nachfahre eines Sklaven, war für viele Weiße ein wütender und gefährlicher schwarzer Mann und deshalb eine Zumutung gewesen. Er hatte sich geweigert, vorsichtig und milde aufzutreten, wollte nicht den Wünschen der Weißen entsprechen. "Gaseous Cassius", den "gasartigen Cassius", so nannte ihn "Time" noch 1967, zweifellos bewusst unter Verwendung seines einstigen Namens Cassius Clay, den Ali zum Sklavennamen erklärt und abgelegt hatte; "Time" war damals ein wichtiges Blatt. Ali aber war das weiße Establishment egal. Er dichtete:
"I am America.
I am the part you won't recognize.
But get used to me.
Black, confident, cocky, my name, not yours; my religion, not yours; my goals, my own. Get used to me."
Die Wahrnehmung also kippte: ins Positive, ins Glorifizierende, ins Rauschhafte. Ali schlug Joe Frazier, schlug George Foreman, und Amerika wandte sich gegen den Vietnamkrieg, gegen den Ali schon seit Jahren gewesen war. Amerika entdeckte ein Vorbild. Die ersten Hymnen wurden verfasst, dann weitere, dann folgten Romane auf Sachbücher auf Filme auf Songs. "Frauen atmen hörbar. Männer blicken zu Boden. Sie werden an die eigene Wertlosigkeit erinnert", so beschrieb der Schriftsteller Norman Mailer 1974 die religiöse Erfahrung, Ali in Zaire aus der Nähe erlebt zu haben. "Der junge Mann, der als Verräter verunglimpft worden war, verwandelte sich in die ikonengleiche Figur unserer Zeit, eine mitfühlende Figur, die Rassenfragen hinter sich ließ. Ein warmes Sepia-Licht bestrahlt die Vergangenheit und überspielt misstönende Details", schreibt Joyce Carol Oates heute in der "New York Times".
All das lässt sich auch ganz einfach formulieren, in vier Worten. In New York, in der 44. Straße ganze nahe am Times Square, gibt es eine schmale Kneipe, "Jimmy's Corner", und dort steht immer noch ein gebeugter Mann hinter dem Tresen, Jimmy Glenn. Jimmy war einst Alis Cut Man, so heißen jene Helfer, die dem Kämpfer zwischen den Runden mit Wattestäbchen mit Salbe die Wunden im Gesicht schließen. Jimmy also kaut hinter seinem Tresen auf Zahnstochern und redet nicht gern, "Man, he was strong", sagt er über Ali, "Mann, er war stark".
Es lässt sich auch ein winziges bisschen würdevoller sagen.
Ali riskierte etwas, sogar den eigenen Ruf, sogar die vielen Millionen, sogar die großartige Karriere, die er für sich entworfen hatte. Und dies ist der wahre Grund für die Verherrlichung und Verkitschung Alis: Er opferte nicht gleich sein Leben wie ein Märtyrer, doch er opferte Dinge, die ihm etwas bedeuteten. Als er sich dem Dienst in Vietnam verweigerte, wurde er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Er blieb bei seiner Haltung. Ins Gefängnis ging er nicht, doch auch 10000 Dollar Strafe und der Entzug der Boxlizenz und der Einzug seines Reisepasses - was einem Kampfverbot im Ausland gleichkam - waren eine brutale Strafe und brachen den Widerstand nicht, er hatte seine Haltung halt gefunden und blieb dabei.
Denn Idole wie Ali sind Menschen, die natürlich nicht heilig sind, vielleicht sogar das Gegenteil von heilig - doch sie haben Mut und entwickeln Entschlossenheit, weil sie wissen, worum es ihnen geht. Und dann trauen sie sich.

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Trauerzug: Louisville verabschiedet sich von Muhammad Ali
Foto: ADREES LATIF/ REUTERS

Muhammad Ali
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